Die Oscars werden nicht für künstlerisch anspruchsvolle Werke vergeben. Es geht hier schon lange nicht mehr darum, den besten cineastischen Film zu prämieren. Es geht um Kommerz. Es geht um Erfolg. Aber vor allem geht es um Politik. Deswegen gewinnen Filme wie Avatar Preise. Deswegen wurden Titanic und Die Rückkehr des Königs mit den goldenen Statuen überhäuft. Doch vor allem werden deswegen Filme wie Philadelphia, wie Milk oder 12 Years a Slave ausgezeichnet. Weil Kunst Macht hat, weil Kunst politisch ist.
Nicht immer ist die Gesellschaft so, wie wir sie uns wünschen. Gewalt, Verfolgung und Ungerechtigkeit sind wiederkehrende Bestandteile menschlicher Geschichte. Rassismus und Antisemitismus, die Skalaverei und der Holocaust erscheinen uns nicht selten so schrecklich, dass ihre Grausamkeit unfassbar erscheint. Doch diese Schrecken liegen nicht nur in der Geschichte. Auch wenn wir uns gerne einreden, dass wir heute weiter sind als je zuvor, noch immer passiert jeden Tag Grausames.
An einem blutigen Sonntag
Grausam ist es zu sehen, wie friedlich demonstrierende Menschen beschossen, verfolgt und verprügelt werden. Selma, der Film der sich mit Dr. Martin Luther King und dem Civil Rights Movment in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts auseinander setzt, führt uns ungeschönt diese Gewalt vor Augen und kommt in Zeiten von Ferguson genau richtig.
Beachtlich ist es, dass es dem Film von Ava DuVernay gelingt, die Geschichte dieser politischen Bewegung mit den Gedanken und Bedenken ihres Anführers zu verbinden. Nicht nur sehen wir, wie sich in Selma mit dem Bloody Sunday die Situation in den USA zuspitzt, sondern gleichzeitig werden uns die Zweifel Kings vor Augen geführt. Damit gelingt dem Film ein Spagat, den so viele andere versuchen, aber nicht umzusetzten wissen. King weiß um den Preis, den er für die öffentliche Wahrnehmung des Problems bezahlen muss und hardert mit den Konsequenzen. Gleichzeitig wird die Wut und die Vielfältigkeit dieser Bewegung deutlich, die die tägliche Ungerechtigkeit nicht mehr ertragen kann.
Das Original in der Kopie
David Oyelowo liefert hier eine herausragende Darstellung dieser bekannten und geliebten Figur amerikanischer Geschichte. Wer schon einmal eine der Reden Kings in einer Tonaufnahme gehört hat, weiß wie nah der Schauspieler mit seiner Intonation an das Original heranreicht. Seine Interpretation dieser Persönlichkeit ist so gut, dass ich mich erst bei der Recherche wieder erinnerte, dass Oyelowo auch in Interstellar eine tragende Rolle hatte.
Doch wir sehen King nicht nur in seinen Zweifeln als Menschen, sondern auch in seinen Fehlern. Im Zusammenhang mit der Überwachung Kings durch das FBI wird deutlich, dass die Ehe der Kings unter Spannung litt. Zum einen wegen des öffentlichen Drucks und den Drohungen, denen das Paar ausgesetzt war, zum anderen aber auch wegen den Affären des politischen Aktivisten.
Die preisverdächtigte Schwäche
Dennoch ist Selma kein perfekter Film. Hier und da gibt es Längen und zu oft verliert sich der Film in langen, stillen Einstellungen. Diese haben durchaus großen Effekt und entfalten nicht selten eine grausame Schönheit. Sehen wir in der einen Sekunde das Gespräch von jungen Mädchen in der Kirche, explodiert in der nächsten die Wand neben ihnen und zeigt uns den schrecklichen Alltag afroamerikanischer Bürger*inn*en in den sechziger Jahren. Doch letztendlich ist die Stille hier und da ein wenig zu lang, sind die dramatischen Blicke auf Kings sorgenzerfurchtes Gesicht ein bisschen zu gedehnt. Jedoch ist es vor allem die Schönheit mancher Einstellungen, die gepaart mit dem Licht und der zurückhaltenden Musik in Erinnerung bleiben.
Trotz dieser Schwächen ist dieses Werk herausragend, denn es zeigt Afroamerikaner*inn*en als Akteur*inn*en und nicht als bloße Opfer der Geschichte. Im Gegensatz zu Filmen wie The Help wird hier nicht nur das Versagen und die Schuld der Weißen gegenüber eines herausragenden weißen Helden oder einer Heldin gezeigt, der*die sich gegen die Unterdrückung stellt. In Selma sehen wir wie Betroffene sich gegen die Ungerechtigkeit stellen, das Leid ertragen und dennoch nicht aufgeben.
Selbstbestimmung statt leerer Hülle
Dies ist besonders wichtig, weil hier ein existenzieller Bestandteil schwarzer us-amerikanischer Geschichte gezeigt wird. Es ist mehr als erfreulich so viele schwarze Schauspielende zu sehen und es ist umso schöner, dass diese nicht zu bloßen Opferhüllen oder Plot Points verkommen, sondern selbst agieren. Denn sie sind der Plot und es ist ihre Geschichte.
Und hier zeigt sich die Einzigartigkeit dieses Films gegenüber seinen Konkurenten. Zwar mag Selma in seinem künstlerischen Ausdruck nicht neben einem Birdman bestehen, aber dafür bringt dieser Film etwas auf den Tisch, dass wir so lange vermissen: Eine Abwechslung zum weißen Einheitsbrei. Hier wird afroamerkanische Geschichte gefeiert und betrauert. Denn während wir über die Opfer weinen, freuen wir uns über den hart erkämpften Erfolg.
Die Gegenwart im Vergangenen
Und über allem schwebt Ferguson. Die Polizeigewalt gegen schwarze Jugendliche ist noch immer genauso grausam wie früher. Wenn King in der Kirche in Selma eine Rede hält und die Ermordung des jungen Schwarzen Jimmie Lee Jacksons beklagt, spüren wir die Wut seiner Zuhörenden. Eine Wut die ungebrochen ist, denn noch immer werden vor allem junge schwarze Männer von weißen Polizist*inn*en erschossen. Die Polizist*inn*en werden dabei entweder nicht verurteilt oder kommen mit wenig Bestrafung davon.
Selma zeigt uns einen Teil amerikanischer Geschichte und holt uns gleichzeitig zurück in die Gegenwart. Eine Intention, die nicht von ungefähr kommt, wird diese Paralelle doch auch im Lied zum Film gezogen. Es ist also verständlich, dass es einen Aufschrei gab, als die Nominierten der diesjährigen Oscars verkündet wurden und Selma fast vollkommen übersehen wurde. Die weltweit bekannteste Preisverleihung ist 2015 so weiß wie schon lange nicht mehr.
Der politische Gewinner
Wenn man Benedict Cumberbatch für einem mittelmäßigen Film nominiert, dann sollte David Oyelowo nicht nur auch nominiert werden, sondern gewinnen. Denn Selma ist nicht mittelmäßig, Selma zeigt uns wie ‘Minderheiten’ präsentiert werden sollen, als selbstbestimmte Menschen – als Individuen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen.
Es ist nicht nur traurig, es ist peinlich, dass weder die Regisseurin, noch die Kamera eine Nominierung erhalten haben. Nein, stattdessen nominieren wir dieses Stück afroamerkanischer Selbstbehauptung in einem weißen System für den Besten Song und Besten Film, weil Musik, das konnten die Schwarzen ja schon immer (/sarcasm). Selma steht zwar nicht wie Grand Budapest Hotel oder Birdman für den künstlerischen Film, aber dafür ist das Werk von DuVernay der politische Film schlecht hin. Hier sehen wir einen Film, der uns Vergangenes zeigt und Gegenwärtiges anpragert und dafür verdammt noch mal hätte er den Oscar verdient.
Denn am Ende geht es bei den Oscars nicht um den cineastisch perfekten Film – es geht um Politik. Denn Kunst hat Macht. Kunst ist politisch. In Zeiten von Ferguson ist Selma aktueller denn je.
Featured Image by Ron Cogswell
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