Und ewig stellt sich die gleiche Frage, wenn wieder ein Buch fertig gelesen wurde: Wie finde ich neues Material? Wenn man als Leser nicht gerade die gerühmten Großtaten der Literatur von einst lesen möchte, dann steht man vor einem undurchdringlichen Urwald aus kommerziellen oder schwer definierbaren Empfehlungen. “goodreads” ist in der Theorie eine tolle Navigation durch den immer noch dichten Seitenwald, aber genau wie “rotten tomatoes” steckt hinter den Zahlen stets eine Vielzahl an Kritikern, die das Punktesystem schnell nichtig erscheinen lassen.
Das heißt nicht, dass man über solcherlei Portale keine guten Bücher finden kann. Doch in der Vielfalt der Meinungen und meinem Unwissen gegenüber den Hintergründen der Menschen hinter diesen Kritiken stellt sich bei jemandem wie mir Misstrauen ein. Man könnte auch gerne meinen, dass ich ein Feigling in dieser Hinsicht bin. Ein Konventionalist, der sich bei gestandenen Meinungen bedient. Nach dieser Devise habe ich mich nämlich schon einige Male bei der Liste der Nominierten und Sieger des Nebula Awards bedient. So bin ich letztlich auch zu John C. Wrights “Chaos”-Trilogie gekommen.
von L. Jagi Lamplighter (L. Jagi Lamplighter) [Public domain], via Wikimedia Commons
Unbekannte neue Welt
Ich kannte vorher weder den Autor, noch hatte ich etwas von “Orphans of Chaos” gehört. Gleiches gilt zwar für das vor kurzem von mir gelesene “The Affinity Bridge” von George Mann, doch wo Mann mir mir bereits bekannte Konventionen des Steam-Punk-Genres servierte, verwirrte Wright mich in positiver Hinsicht. Seine Trilogie beginnt im ersten Buch mit einer Art verworrenem Tagebuch. Durchaus mutig desorientiert das Buch Leser zu Beginn und wird nicht wenige abschrecken. Der Leser muss mit der Erzählerin Secunda alias Amelia Windrose herausfinden, was es mit ihr und ihren vier Freunden, sowie der Lehranstalt, die sie kaum verlassen auf sich hat.
Lange behält Wright den Status des Mysteriums aufrecht, was dafür sorgt, dass jeder neu eingeführte Charakter und nahezu jedes Erlebnis der fünf Jugendlichen einem Rätsel gleicht, welches es langsam zu entschlüsseln gilt. Wenn das Buch in der zweiten Hälfte dann plötzlich einen ersten großen Vorhang fallen lässt, erscheinen die Ereignisse dieses übernatürlichen Krimis in einem gänzlich neuen Licht. Mit einem Mal wird aus Heranwachsenden, die sich mit den alltäglichen Herausforderungen in Form von Hausaufgaben, Liebe und Sperrstunden herumschlagen mussten, Teil einer Welt, die sie nicht einmal für möglich gehalten hätten.
Dass die sehr einfallsreiche und um Einiges freier als zum Beispiel “Percy Jackson” sich an realen Mythen orientierende Geschichte nicht nur durch die Geschichte interessant wird, ist den Protagonisten zu verdanken. Zwar ist Amelia als Erzählerin das Zentrum und gewissermaßen das Auge des Lesers, doch alle fünf Kinder spielen über den Zeitraum der drei Bücher ähnlich gewichtige Rollen. Die Kinder, und an dieser Stelle muss ein klein wenig verraten werden, verfügen über Fähigkeiten, die sich als voneinander unabhängig herausstellen.
Anstatt allerdings einfach ein paar Superhelden-Teenager zu erschaffen, kreiert Wright für seine Charaktere eigene Wirklichkeiten. Jedes der Kinder hat eine ganz eigene Sicht auf das Funktionieren des Universums, was mit ihren eigenen Naturen zusammenhängt. Ob materialistisch, magisch oder zeit-räumlich erweitert sehen Amelia und ihre Freunde die Welt jeweils aus einer völlig eigenen Perspektive. Dies ist umso konsequenter umgesetzt, da wir allein durch ein Augenpaar diese Fähigkeiten und Wirklichkeiten sehen können.
Zudem bedient sich Wright einem Schreibstil, der nahe dem Gedankenfluss anzusiedeln ist. In Klammern erfahren wir oft die Gedanken und Untertöne von Charakteren, was zu Beginn oftmals den Lesefluss hindern kann, die Figuren, insbesondere Amelia, jedoch menschlicher erscheinen lässt, was im Großen und Ganzen der gesamten Trilogie ein nachvollziehbares Stilmittel ist.
Versucht mal mystische Bilder zu finden, die nicht gleich die Bösewichte verraten…
Zum Entdecken gemacht
Nachdem das erste Buch eine Selbstfindung der Charaktere und des Lesers darstellt, wird eine größere Welt vorerst nur angedeutet. Abermals werden nicht wenige wütend das Buch zur Seite schmettern wollen, wenn das erste Buch endet. Man sorgt sich, dass Wright die Entwicklung des gesamten Buches zunichte machen könnte. Genau deshalb sollte man sich unbedingt frühzeitig den zweiten Band besorgen, wenn man merkt, dass man als Leser an Wrights Geschichte interessiert ist.
Im zweiten Buch, auch so viel soll verraten werden, bekommt Wright sehr schnell die Kurve und aus einem vermeintlich nervigen Kniff wird ein Element, dass die Stärken der Opposition der Kinder zum Ausdruck bringt. Nachdem das erste Buch ein zur Seite streifen des unbekannten Dickichts darstellt, ist das zweite Buch die Entdeckung der Welt, die abermals für Leser und unsere Protagonisten in gleichem Maße stattfindet. Man teilt die Entdeckungslust der Jugendlichen und sieht gespannt, was sie erwartet und wie sie ihre Reise fortsetzen.
Die Fähigkeiten der Charaktere sowie die Welt um Amelia und ihre Freunde entwickelt sich stetig und durch die mythischen Hintergründe der Welt war ich als Leser stets investiert und hoffte dem ein oder anderen Charakter aus Sagen zu begegnen. Gleichzeitig entwickeln sich im zweiten Buch aber auch die Helden auf eine unvorhergesehene Weise, die ihre Außendarstellung in Amelias wie auch unseren Augen gänzlich ändert. Selten haben sich meine Meinungen über Charaktere als so wandelbar und dynamisch dargestellt, sodass es mich brennend interessiert, ob ich vielleicht einfach nur gewisse Vorstellungen von Realitäten ansprechender finde und andere Leser wiederum andere Paradigmen und die mit ihnen verbundenen Charaktere vorziehen.
Spätestens mit dem dritten Buch bekommt man dann die epischen Ausmaße, die man sich von einer Fantasy-Geschichte mit einem Hintergrund wie jenem dieser Trilogie erwartet. “Titans of Chaos” war auch schließlich das Buch, welches meine Liebe für den Charakter Colin erweckt hat, der vielen, vornehmlich erwachsen denkenden und weiblichen Lesern davor wahrscheinlich regelmäßig an die Stirn greifen ließ. All das angedeutete Potenzial und Entdeckung der ersten zwei Bücher wird im dritten Teil konsequent für eine packenden Showdown gebündelt.
Die Protagonisten stellen sich nach einiger Vorbereitung ihren Widersachern und Wright nutzt das aufgebaute Universum, um dem genutzten Mythos gerecht zu werden und auf die Gruppe und die Leser ein Füllhorn an Gefahren und unmöglichen Situationen vorzusetzen. Amelia und ihre Freunde haben kaum Zeit um sich von einer Gefahr bis zur nächsten zu erholen und müssen regelmäßig ihre einzigartigen Kräfte verbinden.
Farbenfroh, mystisch und episch hat Wright sich in mein Herz geschrieben
Alte Geschichten, neu erzählt
Anstatt diese Hetzjagd zu einem geistlosen Action-Abenteuer verkommen zu lassen, hält sich Wright jedoch strikt an die Regeln seiner erfundenen Fähigkeiten. Amelia ist unser Auge und erklärt und lebt die gefährlichen Momente auf eine Art, die uns weiter durch ein Mysterium leiten. Anstatt mit bloßem Auge zu entdecken werden wir jedoch durch übermenschlichen Fähigkeiten der Figuren und ihrer Auseinandersetzungen getragen. Dank der oft cleveren Lösungen, die nicht selten auf Ereignisse der vorigen Bücher zurückgreifen und damit aus den Büchern trotz verschiedener Gewichtungen ein Ganzes macht, liest man gebannt, bis auch der letzte rote Faden entknotet ist.
Am Ende wird manch einer vielleicht sogar enttäuscht sein. Wright erschafft aus bekannten Mythen eine derart lebendige Welt, dass man als Leser gerne noch einige weitere Charaktere kennengelernt hätte. Einige Namen werden auch genannt, doch die Sagenfiguren handeln nicht selbst. Das kann enttäuschen, zeigt aber auch wie sehr man sich auf Wrights-Universum einlassen möchte. Ansonsten wird einigen Lesern der Anteil der Romanzen vielleicht etwas zu hoch sein und nicht immer scheint Amelias emotionales Innenleben nachvollziehbar, doch zumeist ist man sehr gerne auf ihrer Seite.
Ich kann Wrights “Chaos”-Trilogie nur wärmstens weiterempfehlen. Hier und da erscheint die Vielzahl der Paradigmen und mit ihnen verbundene Ereignisse überwältigend und erfordert die Leser nicht restlos alles erklärt bekommen zu wollen. Ich habe lang nicht mehr eine solche Mischung Anforderung und Unterhaltung gelesen. Die “Chaos”-Reihe muss sich nicht als Groschenroman verstecken, sondern ist gut geschriebene und recherchierte, sowie äußerst konsequent zu Ende gedachte Kost, die nicht auf die ewig gleichen Erzählstränge zurückgreift.
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