Traditionen sind so eine Sache. Vor allem heutzutage, einer Zeit, in der sich das Leben immer mehr beschleunigt, können Traditionen Halt und Sicherheit geben. Der Mensch konstituiert sich seine Umwelt ja in erster Linie aus den Versatzstücken des bereits Bekannten, um den Input neuer Informationen (und daher die Verarbeitungsanstrengungen des Hirns) auf ein Minimum zu reduzieren. Beziehungsweise versuchen wir, neue Informationen mit alten abzugleichen und uns selbst so unsere eigene Realität zu erschaffen. Deshalb ist es manchmal auch so schwer, in Diskussionen Leute von bestimmten grundlegenden Realitäten abzubringen. Das ganze nennt man dann „geschlossenes Weltbild“. Bei Nazis hat das beispielsweise den Effekt, dass sie den ganzen Scheiß glauben, den sie eingetrichtert bekommen, da aus ihren Dogmen heraus die Lage der Welt (und ihrer eigenen Realität) erklärbar ist und andersweitige Informationen dazu führen würden, die eigene Wahrnehmung stark zu ändern. Und dazu sind viele Leute nicht bereit, da eine Änderung ihrer Wahrnehmung auch einen Änderung ihrer Realität bedeuten würde und damit der Verlust der eigenen Sicherheit im weltanschaulichen Sinne. Zusammengefasst: Wir leben alle in unserer eigenen Welt, die Frage ist nur, wie bewusst wir uns darüber sind.


In seiner eigenen Welt zu leben ist okay, wenn man es dabei nicht übertreibt. Via bobthemntnbiker

Traditionen haben auch gesellschaftliche Auswirkungen. So fühlt mensch sich ja erst so richtig als Teil einer Gemeinschaft, wenn mensch zusammen bestimmte Verhaltensmuster teilt, wozu auch die Pflege von Traditionen gehört. Eine lang gehegte Tradition in den USA ist beispielsweise das momentan wieder diskutierte eher lockere Verhältnis zu Schußwaffen, wohingegen in Frankreich das Gefühl kultureller Überlegenheit gegenüber anderen Nationen auch quasi Tradition ist. Und Deutschland glaubt weiterhin, ein sozial ausgewogenes Land zu sein, das ja eigentlich nur friedlich seinen eigenen Geschäften nachgehen möchte, natürlich in Absprache mit unseren europäischen Freundinnen und Freunden, solange die auch schön von uns Dinge kaufen. Natürlich alles außer Panzer, U-Boote und Handfeuerwaffen, versteht sich. Denn Frieden ist so etwas wie deutsche Tradition. Und damit sind wir auch bei der Problematik von Traditionen: Wenn man sich nämlich nicht bewußt ist, woher eine Tradition kommt und warum es sie überhaupt gibt, sprich: wenn man Tradition einfach ungefragt übernimmt.

Weihnachten ist so eine wenig hinterfragte Tradition, beispielsweise was das Schenken angeht. Warum hat man sich früher etwas geschenkt, warum macht man das heute? Sind wir nicht alle nur Opfer einer Einzelhandelsindustrie, welche uns durch Suggestion dazu zwingt, beständig Dinge zu kaufen, die wir eigentlich nicht brauchen, ganz besonders eben um Weihnachten herum? Und Ostern? Schenken ist Tradition, fraglos, aber es geht ja weniger um das was, sondern um den Akt des Schenkens und Beschenktwerdens.
Weihnachten geht auch mit vielerlei Speisetraditionen einher. Bei einigen Familien gibt es die Weihnachtsgans, bei anderen schlicht Kartoffelsalat und Wurst. Hier ist der Ursprung wieder eher obskur und mensch neigt dazu, sich den Ursprung selbst herzuleiten. Das Feuerwerk an Silvester ist auch eine Tradition, die teilweise heidnischen Ursprung hat. Und zu Silvester gehören nicht nur Böller, Bleigießen und Becher voller Alkohol, sondern auch das Fondue. Zumindest in meiner Familie gab es zu Silvester (und nur dann) Fleisch in heißem Fett. In anderen Familien gab es aber auch Raclette.


Beim Original Schweizer Raclette schabt mensch ja den zerlaufenen Käse von einem Laib ab und isst dazu, wie abgebildet, Kartoffeln und/oder Gurken. Und eigentlich ist’s auch viel anstrengender. Via Wikimedia

Und nun, wo die Vorbereitungen für Weihnachten auf Hochtouren laufen (zumindest anscheined bei jedem ausser mir) und man Silvester entweder schon geplant oder zumindest erste Fühler ausgestreckt hat, um zu erkunden, wohin es denn geht,fällt mir auf, dass verdammt viele Leute zu Silvester Raclette machen. Vielleicht finde ich das nur komisch, weil es im Osten Deutschlands nicht so weit verbreitet ist, aber irgendwie scheint für die meisten Leute aus meiner Umgebung Raclette zu Silvester zu gehören wie für mich Fondue zur Jahresendfeierlichkeit. Aber mittlerweile mache ich mir weder aus Fondue noch Silvester viel und vielleicht fällt es mir deswegen so störend auf, dass viele Menschen mit einem gewissen Fanatismus auf ihrer Essenstradition in Form von geschmolzenem Käse auf einem Holz- oder Metallpfännchen unter einem Elektrogrill beharren. Natürlich kann ich das alles nicht mehr so wirklich nachvollziehen. Weder Silvester, noch Raclette. Was ist so besonders an Raclette? Warum glauben so viele Menschen so viel Spaß daran zu haben, dass sie mit dieser Form von Nahrung in das neue Jahr starten wollen?

Mein Mitbewohner, selbst ein eifriger Silvesterraclettierer, hat versucht, mir diese Faszination näher zubringen. Es ginge ihm um Geselligkeit, auch beim Essen. Man könne drei Stunden zusammen sitzen, immer wieder was essen und dann auch mal aufstehen, ein bisschen plaudern, Bier trinken. Ausserdem sei das ja was besonderes, wenn es nur einmal im Jahr ist. Und es sei relativ unkompliziert und unaufwendig, man schneide ein paar Dinge vor und packe dann Käse drauf.
Okay. In Ordnung. Aber kann man das alles nicht auch einfacher haben? Mit weniger Jahresendmuff und immer mal wieder was neuem? Ausser jedem Jahr dasselbe? Hat jemand mal Chinesisches Fondue probiert? Oder Tempura? Oder mal eine Pizza selbstgemacht? Ein Bananenbrot gebacken? Vielleicht mal ein Menü probiert, so mit drei bis vier Gängen, Dinge gemacht mit Mousse und Parfait oder sowas? Es gibt einfach so viele verdammte Möglichkeiten, etwas zu einem bestimmten Festtag zu essen (wenn man den unbedingt einen Festtag braucht), warum muss mensch dann immer auf Raclette verfallen? Aber vielleicht ist Raclette ja auch genau das, was wir brauchen: Ein einfaches, unkompliziertes Etwas zu dem mensch teures Zusatzgerät kaufen muss, um sich dann anschließend der Illusion hinzugeben, man hätte etwas Tolles und Exklusives gegessen, was ganz besonders ist.

Meine liebe Freundin Annika und ich waren bei unseren Erkundungen zur gemeinsamen Jahresendgestaltung so frustriert von der Tatsache, dass anscheinend halb Deutschland am 31. Dezember im Raclette- und Fonduerausch versinkt, dass wir ein Wort für all diese Essenstraditionen zu Silvester erschaffen haben: Raclü. Dreimal dürft ihr raten, wo dieses Wort herkommt.