Im Schulalltag galt als anerkannte Wahrheit: Jungs sind direkt, Mädchen dagegen indirekt. Mädchen und Frauen würden nicht ihr wahres Gesicht zeigen, weswegen Wandlungsfähigkeit bei Frauen nicht immer als etwas Positives wahrgenommen wird. Im Zuge dieser Erfahrungen möchte ich drei Musikerinnen vorstellen, die sich in ihren Texten mit vielen Gesichtern zeigen. Nicht, weil sie sich verstellen, sondern weil unser emotionales Innenleben nicht mit einem Gesichtsausdruck und immer gleichen Mustern erklärt werden kann.

Eventuell sind Musikerinnen und ihre Perspektiven hierbei für mich derzeit gerade so interessant und eindringlich, weil ich diese Ansichten so noch nicht gehört und verarbeitet habe. Mein Musikkatalog hatte bis vor wenige Jahre eine markante Eigenheit: ich hörte beinahe ausschließlich Bands mit Sängern und männliche Musiker. Da spielten keine Überlegungen eine Rolle. In Gesprächen über Musik wurde mir immer wieder deutlich, dass ich nichts oder nur wenig über Musikerinnen und ihre Bands sagen konnte. Klar, ich kannte Acts, die in den Charts mitspielten, aber im eigenen Regal sind Musikerinnen bis vor wenigen Jahren nicht gelandet.

Die drei Torres’

Das für mich beste Beispiel dieser Wandlungsfähigkeit ist Mackenzie Scott, die auf der Bühne auf den Namen Torres hört. 2013 präsentierte sich Torres auf ihrem selbst betitelten Debüt als introvertierte Künstlerin mit tiefer Stimmlage, die gezielt mit Gefühlsexplosionen arbeitet, um die innere Zerrissenheit zu zeigen. Der Americana-Einfluss in Liedern wie “Honey” zeigte noch eine gewisse Abhängigkeit von gegebenen Strukturen in der Musiklandschaft, von denen sich Torres mit “Sprinter” 2015 komplett löste.

Aus der introvertierten Sängerin mit Leidenschaften für Musik wurde mit “Sprinter” eine leidenschaftliche Sängerin. Abgesehen davon, dass die erste Hälfte des Albums zum Besten gehört, was ich in den letzten 5 Jahren gehört habe, ist “Sprinter” eine thematische Meisterleistung. Allein “New Skin” ist ganze Essays über Fremdbestimmung und Erwachsenwerden wert. Wer des Englischen mächtig ist, dem ist zum Einstieg ein Kommentar aus dem Observer zu empfehlen.

Neben dem thematischen Facettenreichtum entwickelt sich Torres auch musikalisch weiter. Neue und andere Stimmungen erfordern eine neue Stimme. Musik hilft Künstlern wie Torres dabei, dass die Stimme die gleiche ist, aber die Stimmung sich durch musikalische Ansätze hörbar verändert. Ich bin ein Freund von Songwritern, die allein mit ihrer Gitarre neue Geschichten erzählen, aber Torres zeigt, dass die Instrumente essenziell für Stimmungen sein können.

“Sprinter” ist ebenfalls ein Rock-Album, weil Torres eine Rockmusikerin ist. Das ändert sich auch mit ihrem kommenden Album “Three Futures” nicht und doch sind die Alben so unterschiedlich wie unsere Vorstellung der Jahreszeiten. Auf “Sprinter” sind alle Vorbilder wie weggeblasen. Torres ist eine Künstlerin, die auf eigenen Beinen steht. Vom dreiminütigen Rocksong fürs Radio bis zum acht Minuten langen Closer “The Exchange”, der mehr Erzählung als Lied ist, traut sich Torres alles zu.

2017 zeigt Torres ihr neues Gesicht. Zeit vergeht und wir verändern uns. Diesen Fakt schlägt Torres uns mit den bisher erschienenen Singles “Skim” und “Three Futures” unerbittlich um die Ohren. Mit mehr synthetischen Tönen und dem stark reduzierten Einsatz der Gitarre löst sich Torres abermals von ihrem vorigen Selbst. Nachdem ich “Sprinter” als eines meiner Lieblingsalben 2015 gefeiert habe, ist es im Rückblick selbstverständlich für mich, dass die neue Musik mich auf Anhieb enttäuscht hat.

Mit “Skim”, so viel Ehrlichkeit muss sein, tue ich mich auch weiterhin etwas schwer, was die Musik angeht. Aber es ist unüberhörbar, dass Torres wieder ein klares Konzept hat, ihre Botschaften und Gefühle zu vermitteln. In dieser Disziplin gehört sie für mich zu den vielversprechendsten Künstlern ihrer Generation.

Ein Schritt zurück mit Waxahatchee

Bringen wir es hinter uns: Gesundheit! So, haben wir alle einmal über “Waxahatchee” gelacht? Noch mal? Okay, ich kann warten. Das von Katie Crutchfield gestartete Projekt Waxahatchee gehört zu meinen persönlichen Neuentdeckungen dieses Jahr. Das diesjährig erschienene “Out In The Storm” ist etwas, wovon es für mich nicht genug geben kann: ein richtig gutes Rockalbum.

Ohne Vorwarnung beginnt “Out In The Storm”, ähnlich wie seinerzeit “Sprinter”, mit einem nahezu perfekten Song namens “Never Been Wrong”. Waxahatchee ist auf “Out In The Storm” wie in einer Art Zwischenschritt aus Torres’ Debüt und “Sprinter”. Ohne musikalische Ausbrüche, aber selbstständig geht Waxahatchee für ihre Verhältnisse aus sich heraus und verarbeitet eine gescheiterte Beziehung. Diese Thematik verändert nicht die Welt, ist allerdings sehr leicht zugänglich.

Wer für den Aufstieg zur neuen noch nicht bereit ist, findet mit Waxahatchee ein Rock-Refugium, wo einfach nachvollziehbare Gefühle geradlinig und glaubwürdig verarbeitet werden. Katie Crutchfield behält die Melodien auf “Out In The Storm” durchgehend im Auge, was aus dem Album ein erstaunlich unterhaltsames Werk für die Herzschmerzthematik macht. Allein “8 Ball” zeigt, dass Waxahatchee sich an verschiedenen Stilen versuchen, um selbst vielfach bearbeitete Themen wie die gescheiterte Liebe aus neuen Winkeln zu beschreiben.

Gordi oder wie ich Dream Pop eine neue Chance gab

Dream Pop gehört zu diesen Subgenres, wo Kritiker zurecht witzeln, dass sich das doch jemand ausgedacht hat, ohne eine genaue Beschreibung hinzuzufügen. Das mag stimmen, aber wenn Musik so unwirklich und schwerelos klingt, dass wir zu Träumen beginnen, dann können wir sie ruhig Dream Pop nennen. Wer bei solchen Ausdrücken Schnappatmung bekommt und den Hipster-Alarm läutet, der darf Gordi gerne in der Kategorie “Pop” verbuchen. Ich komme beizeiten auf euch zurück und ihr versucht mir dann zu erklären, was die hörbare Definition von “Pop” ist. Ich freu mich drauf.

Die Australierin Sophie Payten hat ihr Album “Reservoir” unter dem Künstlernamen Gordi gerade erst veröffentlicht. Wer bisher nur ihre Single “On My Side” gehört hat, der denkt durchaus zurecht, dass hier eine ganz gewöhnliche Pop-Musikerin am Werk ist. Eine gute mit Gespür für Hooklines, aber eine konventionelle. Und dann hören wir Lieder wie “Heaven I Know”. Gehauchte Stimmen ersetzen den Beat des Liedes mit einem gespenstischen “One-Two-Three”, während sich im Hintergrund eine Pianoballade mitsamt Bläsern entfaltet. Kleine Jazz-Einschübe der Bläser und Sound-Glitches warnen Hörer vor, dass der Song hiermit nicht am Ende ist.

Mit Autotune und unzähligen Elementen, die dem Lied ein Eigenleben verleihen zeigt Gordi in einem Titel, wie viele Ideen in ihr stecken. Diese Einflüsse und Ideen im Verlauf ihres Albums “Reservoir” gebündelt zu hören, ist eine Freude, die Pop Musik heute oft abhanden geht. Zwischen Plastik-Pop und Art-Pop nistet sich Gordi mit vielschichtiger, aber zugänglicher Musik ein, die dauerhaft spannend bleibt, ohne die Hörer zu überfordern.

Ein Appell für mehr Bandbreite

Für einige Leser ist es wahrscheinlich komplett uninteressant, dass ich drei Musikerinnen aufführe. Für mich sind Frauenstimmen in den täglichen Playlists weiterhin etwas Besonderes. Wenn ich mir aber anhöre, welche Musik mich dieses Jahr berührt, bin ich außerordentlich glücklich, dass mehr Frauen für mich zur Normalität werden. Ich will damit nichts erreichen oder eine Frauenquote in meiner Musiksammlung einführen. Viel mehr möchte ich beschreiben, mit welcher Rasanz sich mein Musikkatalog erweitert, seit ich mich (un-)bewusst mehr auf um Frauen zentrierte Musik-Acts einlasse.

Mehr gute Musik ist mehr gute Musik und ich bin ziemlich glücklich, dass sich meine Ohren in den letzten Jahren für mehr Tonlagen geöffnet haben. Was ihr aus meinen persönlichen Erfahrungen macht, ist ganz euch überlassen. Nur versucht mir am Ende diesen Jahres bitte nicht zu erzählen, dass keine gute Musik von Frauen erschienen ist. Euch sollten jetzt mindestens drei Künstlerinnen aus dem Stehgreif einfallen.

 

Ihr rauft euch die Haare, weil ich viel bessere und interessantere Acts hätte nennen können? Ich habe gehört, dass die Musiklandschaft unglaublich breit gefächert ist. Wenn ihr auf unserer Plattform weitere Namen ins Spiel bringen möchtet, könnt ihr das gerne in Form von Kommentaren tun oder schreibt uns auf Facebook und Twitter. Und eine Liebe bitte zum Abschluss: lasst den Hass zuhause, bitte. Danke schön!

Featured Image by Maximilian Nitzke©