Jede Woche passieren Dinge, über die man sich aufregen kann. Und jede Woche passieren Dinge, über die man sich aufregen muss.
Als passionierter Aufreger übernehme ich gerne diesen Part für euch! Katharsis! Ich rege mich auf, damit ihr in Ruhe schlafen könnt. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Und viel Wut im Bauch.
Bildungspolitik
Thilo Sarrazin hat einen an der Klatsche. Ich glaube, da brauchen wir nicht drüber zu reden. Mit seinen neo-rassistischen Theorien hat er die Stimmung gegenüber Migranten in Deutschland, egal ob sie erst seit zwei Jahren oder schon zwei Generationen hier leben, nachhaltig beschädigt. Und er hat all jenen blinden Deutschtümlern, die allzu oft in offensichtlicher geistiger Umnachtung von einer deutschen Leitkultur delirieren, neues Futter für ihre Anti-Multikulti-Ausfälle gegeben. Traurig, dass sich dieses Land nach fast 70 Jahren noch immer mit leidigem, leicht bräunlichen Gedankengut herumschlagen muss.
Umso schmerzlicher ist es, wenn mir zum derzeitigen Stand der deutschen Bildungspolitik nichts weiter als der Titel von Sarrazins erstem Buch einfällt: Deutschland schafft sich ab. Natürlich, Sarrazin meinte das anders als ich. Im Gegensatz zu ihm schiebe ich die Schuld nicht auf eine marginalisierte Gruppe von Menschen, die in Deutschland etwas genauso hohes Ansehen genießt wie die Stinkmorchel. Obwohl, das könnte auch auf die Politiker zutreffen, denen ich die Schuld gebe. Was ich jedenfalls denke ist, dass Deutschland auf einem ohnehin schon morschen Ast sitzt, den es fröhlich und anscheinend nichtsahnend von der falschen Seite her absägt. Oder, um ein anderes Bild zu bemühen, dass Deutschland vor glücklicher Hysterie kreischend in eine Kreißsäge läuft.
Aber fangen wir von vorne an:
Welchen Aufgaben hat der Staat? Geht es nach klassischen Naturrechtlern wie Thomas Hobbes, John Locke oder Jean-Jacques Rousseau, dann ist Aufgabe des Staates der Schutz der physischen Existenz seiner Bürger (Hobbes), der Schutz des Eigentums (Locke) oder die Herstellung bürgerlicher Freiheiten, aus denen alle Nutzen ziehen können (Rousseau). Gemein ist allem vorgenannten großen Herren, dass der Staat dazu dient, seinen Bürger*innen bestimmte Rechte zu ermöglichen. Diese Rechte, sei es nun die Unversehrtheit des eigenen Lebens oder die Fähigkeit der Ausübung politischer Mitbestimmung, sind je nach Zeit und Ort unterschiedlich. Allgemein gesagt, ist der Staat dazu da, ein Gemeinwesen (friedlich) zu organisieren und zwar durch das Mittel der Politik. Um diese Organisation zu erreichen, muss ein Staat seinen Bürgern ein bestimmtes Lebensniveau ermöglichen, damit nicht der Hunger (oder die Wut) größer wird als der Wunsch nach Sicherheit. Wer nichts mehr zu verlieren hat, kann nur noch gewinnen, um eine schreckliche Phrase zu bemühen. Mit der Entwicklung einer post-industriellen Gesellschaft sind die Erwartungen, was dieses „bestimmte Niveau“ angeht, gestiegen. Für uns ist eine Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung, Obdach, Strom und fließendem Wasser selbstverständlich. Und dann gibt es da noch die Grundversorgung, an welcher der Staat ein eigenes Interesse hat: Dazu gehört die Bereitstellung einer angemessenen Gesundheitsversorgung (kranke Menschen können nicht arbeiten und erwirtschaften deshalb keinen Gewinn) und einer angemessenen Bildung (denn dumme Menschen sind nicht so produktiv und sorgen auch nicht für Innovationen). Und genau diese Grundversorgung im Bildungsbereich wird von Deutschland torpediert.
(Die Gesundheitsversorgung übrigens auch, aber das ist ein Thema für einen anderen Aufreger…)
Man muss dazu wissen, dass in der BRD seit der Föderalismusreform von 2006 Bildung weitestgehend Ländersache ist, unter anderem auch der Posten Hochschulbau. Lediglich bei den Hochschulabschlüssen kann der Bund lenkend in die Länderpolitik eingreifen. Deswegen gibt es momentan auch (leider) keine bundesweiten Demonstrationen gegen Einsparungen im Bildungssektor, wie noch vor zwei Jahren, sondern die Unis sind im schlimmsten Fall alleine und auf sich selbst gestellt.
Bildung ist also Ländersache, das Problem ist nur, dass die Länder chronisch pleite sind und sich diese Situation auch nicht schnell ändern wird. Da die Länder pleite sind, ist auch die Bildung chronisch unterfinanziert, was nicht nur in den oft zitierten überfüllten Hörsälen, sondern auch in immer voller gepackten Stundenplänen in der Grund- und Sekundarschule. Kinder haben beispielsweise an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen zwei verschiedene Stundenpläne, die sich von Woche zu Woche abwechseln. Das Motto war wohl: „Mist, wir müssen laut Curriculum Chemie in der siebten Klasse unterrichten, haben aber keine Möglichkeit, dass in den Stundenplan zu packen (verkürztes Abitur sei Dank!). Also machen wir einfach ZWEI Stundenpläne!“ Und so hetzen Schulkinder in jeder Woche durch unterschiedliche Fächer, haben kaum Möglichkeit, das gelernte ordentlich zu verarbeiten oder, was ganz schlimm wäre, mal zu fragen, was das ganze eigentlich soll. Nein, stattdessen werden die Kinder mit Inhalten erschlagen, und wehe sie können die Inhalte nicht alle bei der nächsten Klassenarbeit zu Papier bringen! Die gar nicht so weit hergeholte Erkenntnis, dass manche Kinder einfach ihre eigenes Lern- und Arbeitstempo haben wird trotz besseren Wissens von Seiten der Lehrer und einfach unter den Teppich gekehrt. Stattdessen wird fröhlich weiter gemacht, auch weil die meisten Lehrer das System, indem sie unterrichten (müssen), gar nicht mehr hinterfragen.
An der Uni ein ähnliches Bild: Der Bologna-Prozess hat zur Einführung der Bachelor/Master-Abschlüsse geführt, die das Studium verkürzen und die Inhalte besser an die wirtschaftliche Nachfrage anpassen sollen. Nachdem die ersten Versuchskaninchen-Jahrgänge sich das alles glücklicherweise nicht haben gefallen lassen, sind die größten Stürme vorbei und man beginnt, die Absurdität dieses ganzen, Verzeihung, Hirnfurzes namens Reform zu begreifen. Nach sechs Semestern sollen die ersten Studierenden schon auf den Arbeitsmarkt entlassen werden. Schön, aber was haben die Studis bis dahin gelernt, z.B. in Soziologie, in Geschichte, in Anglistik, in Psychologie, in Medienwissenschaften, in Politik? Kann man nach drei Jahren wirklich davon ausgehen, dass diese Menschen, die gerade mal das allernötigste Basiswissen gefüttert bekommen haben, die noch nicht einmal die Möglichkeit hatten, sich annähernd einen eigenen Überblick über die Themengebiete, inklusive dem Finden eigener Vorlieben und Spezialgebiete, dass diese Menschen also auch nur ein bisschen was produktives zur Volkswirtschaft beitragen können? Wer stellt denn solche Fachidioten, die notwendigerweise keinen Blick nach links oder rechts während ihres Studiums werfen konnten, ein? Ich will nicht bezweifeln, dass drei Jahre Ausbildung für bestimmte Fächer, die nichts weiter brauchen als ein Grundwissen (z.B. Architektur, wenn man auf die Kunst scheißt, Betriebswirtschaftslehre, wenn man auf nachhaltiges Wirtschaften scheißt, Ingenieurswissenschaften, wenn man auf neue Erfindungen scheißt), ausreicht. Aber was ist mit den Fächern, die auch wichtig sind, die zwar keinen direkten volkswirtschaftlichen Beitrag leisten (können), die aber umso wichtiger für den gesellschaftlichen Fortschritt sind?
Neben einer so beschissenen Ausbildung wird man auch noch unter beschissenen Umständen ausgebildet. Nicht nur überfüllte Hörsäle, sondern auch gesperrte Seminare, acht Klausuren in einer Woche, keine Toleranz für eine verhauene Prüfung, überteuerte Mietpreise und die Mensa wird auch nicht besser. Das Betreuungsverhältnis fällt in den Keller, die Dozierenden sind maßlos überlastet und unter all dem leidet nicht nur die Lehre, sondern auch die Forschung. Ich kann nicht vor Verzweiflung kotzen, ich muss lernen!
Das schöne humanistische Bildungsideal wurde im Klo runtergespült, was wir heute haben, ist ein funktionales Bildungsprinzip: Ich bekomme etwas beigebracht, damit ich später mehr verdienen kann. Dass Bildung auch immer Erweiterung des eigenen Horizonts bedeutet, das Erkennen von Zusammenhängen und die ständige Neugier zu wissen, warum etwas geschieht, das wird alles von Bund und Ländern vernachlässigt. Bildung hat eine Funktion zu erfüllen, nämlich möglichst bald Rendite für den Staat abzuwerfen. Scheiß auf die Menschen, scheiß auf die Grundversorgung. Der nächste Schritt ist die Privatisierung der Unis, denn die Grundversorgung ist in Form von Grund- und Sekundarschulen ja gegeben. Alles weitere ist Luxus. Danke, Deutschland!
Es fragt sich, warum dies alles geschieht. Warum Deutschland seine Zukunft als post-industrielle Wissens- und Innovationswirtschaft, also als stark von gut und breit ausgebildeten Bürger*innen abhängiger Staat, warum diese Chancen verspielt werden? Das traurige ist, und ich mag kaum diesen Umstand kaum glauben, dass die Politiker*innen, die verantwortlich sind, das alles ganz genau wissen. Die wissen, dass unter den Umständen, unter denen momentan unterrichtet wird, nicht wirklich etwas gutes herauskommen kann. Und sie tun nichts, aus zwei Gründen: Erstens wird es in 10 – 15 Jahren weniger Kinder geben, die man versorgen muss, und damit müssen auch weniger Lehrer*innen bezahlt werden. Man kann das Problem also aussitzen. Zweitens verpflichten sich die Politiker*innen heute nur noch dem „Möglichen“, dem „Pragmatischen“, sehen nur noch „Alternativlosigkeit“. All das ist aber nur eine Ausrede, um eine Politik zu rechtfertigen, von der Macher*innen selbst wissen, dass sie falsch ist. Warum machen die dann nichts anderes, warum wird die Ausflucht in einem vermeintlichen Pragmatismus (oh, wie ich dieses Wort verabscheue!) gesucht? Weil die Politiker*innen Angst haben. Weil sie Angst haben, eine kompromisslose Politik zu führen, die Teile ihrer Wähler*innenschaft vielleicht nicht passt und welche vor allem, man mag es sich kaum vorstellen, von der Wirtschaft nicht euphorisch begrüßt wird. Es ist mittlerweile so, dass fast die gesamte politische Klasse in Deutschland auf die ein oder andere Art von der Wirtschaft als Geisel genommen und mit Blick auf Export, Wettbewerb, Globalisierung und all den anderen Schreckgespenstern erpresst wird. Oder, was noch schlimmer, aber wahrscheinlicher ist, dass die Politik sich in vorauseilendem Gehorsam freiwillig dem Willen der Wirtschaft unterwirft. Bah, ich muss aufhören, sonst fang ich noch an, Steine zu schmeißen.
Im Übrigen: Bildung ist auch immer ein Selektionsfaktor. Wenn Deutschlands Bildung also nicht so stark selektiv wäre, hätte Thilo Sarrazin auch keinen Grund gehabt, sein dummes Buch zu schreiben.
PS: Der Fluter hat in seiner Sommerausgabe das Thema Bildung und berichtet wie immer sehr großartig und informativ. Gibt’s kostenlos zum runterladen oder als Gratis-Abo.
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