Ich fürchte, ich kann nicht sonderlich gut diskutieren. Wahrscheinlich bin ich einer von diesen Typen, denen die besten Argumente zwei Tage später abends beim Zähneputzen einfallen. Trotzdem schreibe ich echt gerne den Aufreger, weil ich mich im Zuge dessen intensiv mit einigen Sachen auseinandersetzen kann. Und das beste ist: niemand kann mir wirklich widersprechen.

Der fehlende Widerspruch ändert aber leider nichts zum Positiven. Denn gerade erst in der Konfrontation mit anderen Meinungen können sich die eigenen Argumente beweisen und im besten Fall an Stärke gewinnen. Potentiell bergen solche Auseinandersetzungen aber eine Gefahr: Es könnte klar werden, dass der eigene Standpunkt ein bisschen scheiße ist. Das ist so ein Problem, dass sich gerade in Deutschland ganz gut beobachten lässt.

Populisten-Parade

Nehmen wir Thilo Sarrazin, der Anfang diesen Jahres ein neues Buch herausgebracht hat: „Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“. Oder nehmen wir Akif Pirinçci, der neulich ganz unkritisch seine durchaus zu kritisierende Haltung im ZDF kundtun durfte. Der einen oder dem anderen ist vielleicht noch Sybille Lewitscharoff mit ihrer, sagen wir, kuriosen Rede im Dresdner Schauspielhaus im Gedächtnis. Denken wir auch an Bernd Lucke, Vorsitzender der sogenannten „Alternative für Deutschland“, dessen Partei und auch er selbst immer wieder mit erschreckend blödsinnigen Stellungnahmen auf sich aufmerksam macht bzw. machen. Speziell beim Thema Rassismus.

 By Fake is the new real, via Flickr.comracism_1_fake is the new real“Ich finde das nicht rassistisch, das war damals eben so”. Macht es aber nicht besser, vielen Dank.

Alle diese Personen, und alle anderen ihres Schlages, reklamieren für sich das Recht der Meinungsfreiheit, sobald jemand ein Argument gegen ihre Thesen bringt. Sarrazin hat darüber ja sogar ein Buch geschrieben. Er glaubt anscheinend, dass seine Meinungsfreiheit durch eine Art Internet-Mob, durch „radikal Demonstranten“ oder die „linke Medienmacht“ eingeschränkt werde. Ich habe da den Eindruck, dass er und alle anderen nicht wirklich verstanden haben, worum es bei Meinungsfreiheit eigentlich geht.

Meinungsfreiheit ist keine Einbahnstraße

Folgt mensch Wikipedia, so ist Meinungsfreiheit das subjektive Recht auf freie Rede und öffentliche Verbreitung einer Meinung. Dieses Recht wird einem vom Grundgesetz in Artikel 5 gewährt. Dort heißt es: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]. Eine Zensur findet nicht statt.“ Schön und gut. Allerdings heißt es im zweiten Absatz: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Also: Meinungsfreiheit ja, aber nur solange sie keine Rechte verletzt, zum Beispiel zum Jugendschutz, zum Urheberrecht oder Volksverhetzung. Eine uneingeschränkte Meinungsfreiheit herrscht in der BRD also nicht. Auch wenn mensch da in manchen Sachen uneins sein kann, im Grunde ist das nicht schlecht.

By Damon !, via Flickr.com

thumbs up_damon !Daumen hoch für die Verfassung und so Zeug!

Nun haben Menschen heute dank des Internets wesentlich mehr Möglichkeiten als früher, ihre Meinung zu verbreiten. Gleichzeitig haben immer mehr Menschen die Möglichkeit, sich über diese Meinung zu informieren und dazu Stellung zu beziehen. Ergo: Meinungsfreiheit wirkt in beide Richtungen. Wenn Sarrazin also der Meinung ist, dass Armutszuwanderung existiert und die meisten Ausländer es nur auf die deutsche Sozialkasse abgesehen haben, so darf er diese Meinung vertreten. Genauso darf ich aber auch sagen, dass Armutszuwanderung ein Kampfbegriff der Konservativen ist, um den Leuten Angst zu machen und Ausländer*innen dieses Land wahrscheinlich weiter bringen als der bräsige deutsche Stammtisch. Und ganz nebenbei darf ich das auch Sarrazin ins Gesicht sagen. Meinungsfreiheit ist keine Einbahnstraße. Sie gilt für alle.

Konsequenzlosigkeit für alle!

Meinungsfreiheit ist auch keine Konsequenzfreiheit. Wer eine Meinung vertritt, zumal öffentlich, die oder der muss mit Widerspruch rechnen, in heutigen Zeit so wunderbar Shitstorm genannt. Wenn Lucke und Co. lauthals krakeelen, dass Ausländer doch bitte in ihren eigenen Ländern bleiben sollen, da sie in Deutschland ohnehin nicht produktiv sein könnten, dann darf sich die AfD nicht darüber wundern, dass sie von einigen Teilen der Bevölkerung hart gedisst wird. Und Sarrazin darf sich auch nicht darüber beschweren, dass immer wieder Protestierende seine Veranstaltungen stören. Denn Protest ist das gute Recht eines jeden Menschen.

Das wirklich perverse aber an den Klagen dieser deutschen Version von Ultra-Konservativen ist ihre vermeintliche Opferrolle. Sarrazin & Co stilisieren sich immer wieder zu Opfern eines wütenden Mobs an „Gutmenschen“ hoch, welche die von den Populisten herbeigeredeten Fakten einfach nicht hören möchten. Man geriert sich in den Kreisen der „Achse des Guten“ so, als sei mensch ja nur Überbringer*in der Nachricht, nicht ihre Urheber*in. Die Botin oder der Bote verdiene doch nicht diese geballte Ladung an Pappschildern, die sie unfreundlich zum Schweigen auffordern. „Das wird man ja noch sagen dürfen“ ist das Mantra der Rückwärtsgewandten.

 By Jan Kraus, via Flickr.comoktoberfest_Jan KrausSymbolbild: Das Oktoberfest.

Aber gerade diese Äußerung ist ziemlich dreist. Denn durch die Opferrolle kehren die Verbalaggressoren das Verhältnis von Opfern und Tätern um. Dabei sind diese sogenannten Konservativen aber eben nicht die Opfer, sondern ziemlich sicher diejenigen, die mit ihren Aussagen bestimmten Gruppen gewisse Rechte (Adoption, Teilnahme am Sozialstaat, Einwanderung, Asyl etc.) vorenthalten wollen. Sie sind die Täter in einem zum Glück bisher nur verbal geführten Konflikt. Ich kann mir diese Heulerei von ein paar privilegierten Arschlöchern echt nicht mehr anhören.

 Die Illusion der Mitte

Was besonders deutlich wird in der ganzen Sache: Die „Mitte“ in Deutschland ist bisweilen genauso extrem wie die „Extremisten“ an den Rändern des politischen Spektrums. Seiten wie „Lookismus gegen rechts“ demonstrieren doch hervorragend, wie tief rassistische, homophobe und sexistische Haltungen in der angeblichen „gesellschaftlichen Mitte“ vertreten sind. Das die Mitte eigentlich immer nur herbeigeredet wird, hat man nicht nur bereits Ende der 1950er Jahre festgestellt, sondern vor ein paar Jahren durch eine Studie mal wieder bestätigt. Insofern ist es eine ziemlich gute Sache, dass aus der Gesellschaft heraus Widerstand gegen die Äußerungen von Sarrazin, Lucke und Konsorten entsteht. Ich freue mich, dass diesen Menschen gezeigt wird, dass sie keine Vertreter einer „schweigenden Mehrheit“ sind.

By Sun Pictures, via Flickr.com

tribal protest india_sun PicturesSymbolbild: Fackeln und Mistgabeln (ohne Fackeln und Mistgabeln, aber hey, eine Sense!)

Problematisch allerdings ist es, wenn Protest dazu führt, dass sich die Protestierenden nicht mehr mit den Positionen und Argumenten der Gegenseite beschäftigen. Wenn es nur noch um Widerstand und nicht mehr um Diskurs geht. Natürlich ist es vielleicht vergeblich, mit Rassisten zu argumentieren. Aber letztlich geht es auch um eine moralische Hoheit über stumpfe Thesen. Es geht darum zu beweisen, dass nur Inklusion zu menschlicher Größe führt, nicht Exklusion. Eine Demokratie lebt davon, dass ihre Mitglieder diskutieren und nicht, dass sie sich gegenseitig den Mund verbieten.

Ob wir es wollen oder nicht: In einer freien Gesellschaft müssen wir auch Meinungen aus der „Achse des Guten“ tolerieren. Tröstlich ist nur der Gedanke, dass Meinungen eben genau nur das sind: subjektive Empfindungen. Wahre Urteile aber lassen sich nur durch das Anhören verschiedener Meinungen und damit der Einnahme unterschiedlicher Standpunkte fällen. Das schrieb übrigens Hannah Arendt in ihrem posthum veröffentlichtem Fragment „Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie“. Möchte man ihre Ausführungen auf das niedrigste Niveau herunterbrechen, so bleibt eine beruhigende Erkenntnis: Eine Meinung ist nunmal wie ein Arschloch. Jede*r hat eine.