Nachdem ich letztes Mal relativ ausführlich über Totschlagargumente, die keine sind, gesprochen habe und versuchte bewusst zu machen, wie gefährlich es sein kann, emotionale Äußerungen und statistische Argumente zu mischen, möchte ich heute gerne zur anderen Seite der Medaille kommen – Den Fakten.

Denn Gespräche und Diskussionen sind, wenn man sie genauer betrachtet, eine faszinierende und komplexe Aneinanderreihung, Verknüpfung und Vermischung von unterschiedlichen Teilelementen. Eines davon ist der Verweis auf (sogenannte) hieb- und stichfeste Tatsachen. Ich persönlich bin beispielsweise ein großer Fan von Statistiken, denn sie sind ein großartiges Mittel um Strukturen offen zu legen. Nun ist das mit den Statistiken und der Wissenschaft generell so eine Sache. Wir glauben ja alle gerne an die Vorstellung von objektiver Forschung damit wir Fragen mit ja oder nein beantworten können. Wirft man aber einen Blick auf die Herstellung dieser ‚Fakten‘, dann wird leider sehr oft deutlich, dass die Realität doch eine andere ist. Manch ein*e Leser*in wird jetzt vielleicht laut schnaufen und sagen: Ja, ja da spricht doch bestimmt eine Geisteswissenschaftlerin – Die immer mit ihrem ewigen ‚vielleicht‘ und ‚das kann mensch jetzt nicht genau sagen‘. Leider hat das aber alles überhaupt nichts mit Geisteswissenschaften zu tun. Auch die immer so hoch gepriesenen ‚harten‘ Naturwissenschaften wollen zwar besonders objektiv sein, sind es aber leider eben doch nicht. Ein schönes Beispiel dafür ist die Biologie, vor allem wenn es um die Untersuchungen zur ‚natürlichen‘ und ‚offensichtlichen‘ Zweigeschlechtlichkeit bei Menschen geht.

Aber ich schweife ab, was ich damit eigentlich sagen will ist: Natürlich müssen wir mit Fakten argumentieren, dazu gehört aber auch, dass man nicht jeder Statistik blind vertrauen kann und darf (auch wenn das sehr schön wäre) und dass zu Wissenschaft (und meiner Meinung nach intelligenten Diskussionen) das Hinterfragen von Fakten dazu gehört. Die Ohren spitzen muss mensch z.B. bei der sehr oft herbei zitierten Aussage:

„Aber Männer werden doch auch diskriminiert… z.B. Jungen in der Schule.“

Auf diese Äußerung sollte mit einer Frage reagiert werden, nämlich WELCHE Jungen? Denn auch bei der Debatte um Bildungspolitik, die in den letzten Jahren neben der Frauenquote als Hauptfolie diente um Geschlechter(un)gleichheit in Deutschland (zumindest in den ‚seriösen‘ Medien) zu diskutieren, neigt die Öffentlichkeit dazu ein allzu oberflächliches Bild zu zeichnen. Das beginnt bei der Pauschalisierung, dass ALLE Jungen sogenannte Bildungsverlierer sind. Schaut man genauer hin, wird aber deutlich, dass es einen anderen Faktor gibt, der viel größere Auswirkung auf Erfolg und Misserfolg in der Schule hat: Der soziale Hintergrund (Ebenfeld, Köhnen 2011, S. 19). Jungen aus bürgerlichem Haushalt sind weiterhin diejenigen, die besser Leistungen in Naturwissenschaften erbringen und erfolgreicher auf der Bildungslaufbahn abschneiden vor allem, wenn mensch die die Schulausbildung nicht allein, sondern in einem größeren gesellschaftlichen Kontext betrachtet und auch spätere berufliche Entwicklungen einbezieht. Auch die ‚Feminisierung‘ des (Früh)bildungspersonals hat mehrfach erwiesen (Rieske, 2011 S. 17) KEINEN Einfluss auf unterschiedliche Lernerfolge.

Aber unabhängig von dieser inhaltlichen Kritik, die deutlich macht, dass es durchaus Diskriminierung in unserem Bildungssystem gibt ist es ein anderer Aspekt dieser Debatte, der mich aufregt – nämlich das implizierte Männer vs. Frauen. Wird über die Schule diskutiert heißt es in der Mehrzahl der Fälle: Alle Mädchen sind besser und alle Jungen versagen. Die Mädchen wurden also genug gefördert/bevorzugt, jetzt sind die Jungen dran. Es werden klare Fronten gezogen und an diesen entlang diskutiert (das begegnet einem auch gerne bei Diskussionen zur Frauenquote).

Ich frage mich in solchen Situationen: Haben die Menschen das Konzept GESCHLECHTERgerechtigkeit nicht verstanden? Es geht nicht darum eine Gruppe zu bevorzugen, es geht darum gleiche Chancen für ALLE zu schaffen. Das heißt Frauen* sollen werden können, was sie wollen, genauso wie Menschen aus finanziell schwächer gestellten Familien – sei es mit oder ohne Migrationshintergund – ein Recht auf (höhere) Bildung haben. Und natürlich heißt das auch, dass mensch die Situationen und Strukturen in unsere Gesellschaft anerkennt in denen Männer benachteiligt sind (z.B. Sorgerecht bei Kindern). Aber diese Beispiele machen nur einen sehr sehr kleinen Teil der Ungerechtigkeit aus, die in unserer Gesellschaft passiert. Schaut mensch in die unzähligen anderen Bereiche, sind es fast immer Frauen*, die vor verschlossenen Türen stehen. Was auch nicht verwunderlich ist, denn immerhin ist die europäisch/amerikanische Gesellschaft seit Jahrhunderten durch Ungleichbehandlung der Frauen* geprägt worden. Das ist nun mal auch einer der zu bemühenden Fakten. Daher ist es auch wenig sinnvoll in Situationen, in denen z.B. über Frauenquote oder Work/Life-Balance gesprochen wird, laut zu brüllen: Aber was ist mit den Männern? Eh, um die geht’s grad nicht, wir reden grad über Sexismus gegen Frauen*.

Trotzdem muss meiner Meinung nach Geschlecht immer differenziert gedacht werden. Es kann nicht über Weiblichkeit diskutiert werden ohne das Verhältnis zu anderen Geschlechtern mitzudenken genauso wie Männlichkeit nicht singulär betrachtet werden kann und soll. Stereotype und die Konstruktion von Identität funktionieren immer in Abgrenzung zu anderen Menschen und Gruppen. Genau deshalb wird über Geschlechtergerechtigkeit gesprochen. Womit wir schließlich zum eigentlichen Kernpunkt kommen: Dem Bedrohungsgefühl das sich bei einigen (zumeist männlichen) Menschen einzustellen scheint, wenn über Gleichberechtigung und die Veränderung zu einer gerechteren (Geschlechter)welt gesprochen wird. Das äußert sich dann in Aussagen, wie: Irgend so ne Frau hat MEINEN Job geklaut. Sehr schön auf den Punkt gebracht hat das Problem Michael Kimmel, der aber deutlich macht, dass es eben nicht ums Verlieren der Männer* gegen die Frauen* geht, sondern darum, dass am Ende alle gewinnen.

Nun wird sich vielleicht eine*r die Hände reiben und denken: Haha aber wer sagt denn, dass diese Fakten stimmen? Hat’se nich’ oben selber gesagt, dass Statistiken total blöd sind, weil niemand weiß ob’se stimmen? Nope, das hat ‘se nicht gesagt! Es geht darum, nicht alles blind zu glauben, was einem an ‚Wissenschaftlichem‘ vor den Kopf geworfen wird. Wissenschaft ist nicht per se objektiv, Wissenschaft hat Methoden entwickelt um Dinge zu messen, sei es die Geschwindigkeit mit der sich Licht bewegt, wie schnell sich Viren im Körper ausbreiten oder eben wie man Strukturen ‚messen‘, also analysieren und verstehen kann. Doch nur, weil Forschung akkurat sein kann, heißt das nicht, dass man an den*die große*n Gott*Göttin Wissenschaft glauben muss. Wissenschaft wird von Menschen gemacht und Menschen sind nun mal fehlbar. Objektivität ist ein Konstrukt (Voss 2008, S. 235-249), denn sie implizierte, dass mensch vollkommen abgegrenzt und emotionslos über ein Thema sprechen kann. Das Geschlecht gehört aber nun mal zu einem der Schlüsselfaktoren, die unser Leben bestimmen, mit denen wir unser Umfeld sortieren. Wir werden zu unserem Geschlecht erzogen, wir werden in zwei Kategorien sortiert und uns wird ein Leben lang anerzogen, dass wir uns so oder so zu verhalten haben. Brechen wir aus, müssen wir mit gesellschaftlichen Konsequenzen rechnen – egal ob wir ‚biologisch‘ nicht einzusortieren sind oder keinen Bock auf den ganzen Scheiß haben. Menschen können nicht außerhalb ihrer Sozialisation handeln, sie können sie reflektieren, sie können sie kritisieren, sich bewusst machen was falsch läuft und wenn sie Glück haben sich davon distanzieren. Und trotzdem, auch diese glücklichen Menschen werden weiter gegen gesellschaftliche Normen kämpfen müssen, ihr Leben lang. Genau deshalb kann Wissenschaft vor allem zu Geschlechtern nicht objektiv sein. Daher ist es wichtig, dass Forschende transparent machen vor welchem Hintergrund sie forschen und dass Arbeitsmethoden sichtbar gemacht werden, so dass nicht wieder ein Vollhonk behaupten kann, das räumliche Vorstellungsvermögen von Frauen* und Männern* sei unterschiedlich. Ein Blick in vergleichende, interdisziplinäre und großer Studien zeigt nämlich – Nö, das mit den Höhlenmensch klingt nett, hat aber mit Wissenschaft primär nicht so viel zu tun.

In diesem Sinne, unsere Bildungssystem hat große Probleme, aber den weißen bildungsbürgerlichen Jungen geht es super!