Ich bin der völlig falsche Mensch, um über ein Musical zu schreiben. Vielleicht bin ich genau deswegen auch derjenige, der darüber schreiben sollte. Bevor sich jetzt einige die Hände reiben und einen Monster-Rant erwarten, muss ich diese Erwartungen gleich enttäuschen. Ausgerechnet an Musicals gehe ich nämlich sehr neutral heran. Das heißt nicht, dass sie mir gleichgültig sind, aber von einem Musical will ich in erster Linie unterhalten werden. Da geht es mir nicht um eine tiefgründige Story, sondern um schön vorgetragene und gut inszenierte Gesangseinlagen. Pathos, Epik und was auch immer ihr für Worte noch einstreuen möchtet, das ist mir bei einem Musical wichtig.

Sweeney Todd war mein letztes “großes” Musical. Tim Burtons Version des Sondheim Musicals von 1979 hat mich mit Bildern und Liedern umgehauen. Die erzählte Story strotzt natürlich nur so vor Lücken und haut einen nicht gerade um. Wie die Geschichte allerdings mit und durch Musik und Lieder erzählt wird, muss gefallen. Gerade deswegen war ich im Vorfeld ein wenig skeptisch. Tom Hooper als Oscar-Regisseur und eine schillernde Star-Riege im Film lenken von den wichtigen Tugenden des Musicals ab. Das kann zumindest passieren und tut es bei manchen Charakteren leider auch.

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Les Miserables
Das ist die Pathos-Dimension, die ich meine!

Die Geschichte des Jean Valjean (Hugh Jackman), der in Anbetracht der Gnade eines Priesters sprichwörtlich vom Saulus zum Paulus wird und seine dunkle Vergangenheit als Dieb hinter sich zu lassen versucht, treibt eine der besseren Musical-Geschichten bis heute an. Grund dafür könnte der ursprüngliche, sozialkritische Roman Victor Hugos sein, der ja bekanntlich ganz gut schreiben konnte.

Das Frankreich zur Zeit der “zweiten französischen Revolution” sieht schön aus und zwinkert dem Zuschauer – ähnlich dem London aus Burtons Sweeney Todd – mit übertriebenen Farben und einem gewissen Theatercharme zu. Dieser Ansatz wird besonders während Anna Hathaways Prostitutionsszene deutlich, die mit entlohntem Geschlechtsverkehr in einem Sarg endet. Oh, du plakative Bilderkraft! Bei allen schönen Bildern hat es Hooper allerdings verpasst, uns oft genug die ganze Bühne zu zeigen. “Les Misérables” möchte sehr intim wirken, wie bei Hathaways aus dem Trailer bekannten Szene. Das funktioniert allerdings nicht immer und verwirrt Bild und Raum, wenn mehrere Charaktere singen.

Viel zu selten bekommt man die bildliche Größe der Eröffnungsszene, wenn Sklaven ein Schiff an Strängen in die Werft ziehen müssen. Anstatt dessen kleben wir oft am – durchgehend guten – Mienenspiel der Schauspieler und verlieren dabei aber die Größe und Pracht des Stücks aus den Augen, die oftmals erst den letzten Kick gibt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Filmpaar Cohen/Bonham Carter, die als Halunkenpärchen immer mit ihrer Umgebung interagieren und somit den Raum des Filmes ausnutzen. Auch wenn mir diese beiden Charaktere zu gezwungen lustig waren, sind sie von ihrer Machart her am besten umgesetzt.


Ich hab nur Sand im Auge…

Was wir dann allerdings in Nahaufnahmen und eben aus den Boxen bekommen ist durchgehend gut bis sehr gut. Wenn man in der zweiten Hälfte des Films darüber hinwegkommt, dass all die Jungschauspieler bessere Stimmen haben als die “Großen” (eventuell mit Ausnahme einer überraschend starken Hathaway), ist die schauspielerische Leistung der ersten Schauspielergarde durchgehend ein Vergnügen. Selbst der aufgrund seiner Rolle sehr zweidimensionale Russell Crowe versprüht mit seinen limitierten Gesangsfähigkeiten genau die Sorte von fehlgeleiteter Autorität, welche seinem Charakter zugedacht ist.

Über allen thronend darf man allerdings Hugh Jackman und Anne Hathaway betrachten, die nur so vor gut konserviertem Overacting strotzen. Es ist kaum überraschend, dass Jackman eine Nominierung für den besten Hauptdarsteller erhalten hat. Die jungen Schauspieler können nicht ganz so gut mithalten. Das Liebespaar Marius (Eddie Redmayne) und Cosette (Amanda Seyfried) singen zwar wunderschön, doch wirkliche Gefühle entwickelt man für das junge Filmpaar nicht. Wirklich überzeugen tut nur die 22jährige Samantha Barks als tragische Figur der Éponine. Hier stimmen Gesang und Gefühl auf ganzer Linie. Chapeau vor der jungen Britin.

Wenn man das alles so hört, scheint Les Misérables doch ziemlich gut zu sein, aber es sind am Ende so viele visuelle Details, sowie teilweise fehlende Bindung zu den Charakteren (sei es aufgrund gesanglicher oder schauspielerischer Mängel), die den Film daran vorbeischrammen lässt, etwas richtig Gutes zu sein. Les Misérables unterhält, aber verpasst es immer wieder groß genug zu wirken. Das vergisst man zwar immer wieder gerne, dank Tränendrüsentodesszenen, darf aber nicht über zu viele Ecken und Kanten hinwegtäuschen, die einem letztlich wirklich runden Kinoereignis im Weg stehen bleiben.