Meine Hände kriechen über die Tastatur, langsam, wie eine narkotisierte Schildkröte. Schwer fallen meine Finger auf die Tasten, einer nach dem anderen. Die größte Anstrengung ist, sie wieder zu heben, noch einen Satz zu schreiben, einen weiteren Buchstaben, zu schauen, dass alles am Ende irgendwie zusammen passt. Es ist eine Qual.

So ungefähr müsst Ihr euch meine Versuche vorstellen, nach der Arbeit, an meinem Feierabend, noch einen Beitrag oder zwei für diesen unseren wunderbaren Blog zu schreiben. Ihr habt ja alle mitbekommen, dass ich arbeitslos war. Das bin ich nicht mehr, glücklicherweise, aber dafür bin ich statt arbeits- nun zeitlos. Die Tatsache, dass seit Juli kein Aufreger mehr zustande gekommen ist, trägt diesem Umstand Rechnung. Und was gäbe es für Themen! Die Bundestagswahl! Die Späh-Affäre der westlichen Demokratien! Eine nationalistische Maut! Es gäbe für mich also jede Menge abzuarbeiten. Aber kreativ sein nach neun Stunden Büro, inklusive einer gefühlt viel zu kurzen Mittagspause? Witzig und ironisch, innovativ und zugespitzt, popkulturelle und politische Kommentare auf höchstem Niveau? Welch vermessener Anspruch an ein menschliches Wesen wie mich. Ich bitte deshalb darum, mich zu entschuldigen: für die lange Wartezeit und nicht zuletzt für die Umstellung auf unserem Blog. Diese beinhaltet nämlich die fundamentale Änderung, dass der Aufreger der Woche in den vorzeitigen Ruhestand bei nur minimaler Frührente geschickt wird. Statt dessen wird der Aufreger des Monats eingestellt, ein etwas weniger effizientes Modell, dass dafür aber wenigstens (nicht zuletzt nach dem katastrophalen Ausfall des Aufregers der Woche in den letzten Monaten) relativ verlässlich arbeitet. Na, wer hätte diese Blog-Umstellung angesichts meiner Lebens-Umstellung erwartet.

Via flickr by marsmet

tired at desk_marsmet473aUnd welche große Umstellung! 

Für viele anscheinend absolut erwartbar (zumindest angesichts der ausbleibenden Demonstrationen usw.) war die Enthüllungen von Edward Snowden über die Praktiken der NSA und ihrer ständigen Überwachung des Internets. Ebenso wenig überrascht schienen die Menschen (nicht zuletzt die Deutschen) über ähnliche Verfahren in ihren eigenen Ländern. Um es auf den Punkt zu bringen (nicht, dass das irgendwem eine neue Erkenntnis bringen würde, immerhin war das scheinbar schon immer allen irgendwie klar): Wir, Bürger*innen einer sich selbst als „frei“ bezeichnenden Demokratie, werden von ebendieser überwacht, unsere Kommunikation aufgezeichnet, abgespeichert, durchsuchbar gemacht. Fremde Menschen können in ihrer Mittagspause mal eben eine der Abhör-Suchmaschinen wie XKeyScore oder TEMPORA anwerfen und sich die versauten Mails ihrer Nachbarn reinziehen. Glückwunsch, Demokratie.

Und die Pferdefleischskandale haben wir natürlich auch nicht vergessen. Vor kurzem erst wurden zahlreiche Käseprodukte zurückgerufen, da sie mit Bakterien verunreinigt waren. Der Süddeutschen Zeitung ist dabei aufgefallen, dass viele Produkte, die als unterschiedliche Marken ausgezeichnet waren, im Grunde aus einem einzigen Betrieb kamen. Natürlich ist es nicht ungewöhnlich, wenn in einem Betrieb unterschiedliche Produkte hergestellt werden. Warum auch nicht soll eine Fabrik nicht gleichzeitig Ziegen- und Kuhmilch zu Käse verarbeiten? Auffällig daran ist aber, dass das gleiche Produkt unter verschiedenen Marken verkauft wurde. Natürlich bezieht sich das nur auf Käse, aber wie viele Lebensmittelskandale brauchen wir noch, um zu kapieren, dass uns da etwas vorgegaukelt wird? Dahin ist also unsere wunderbare Illusion, durch die Vielfalt unseres Konsum unsere Individualität unterstreichen zu können. Verpufft ist unser Glaube, die Warenvielfalt hänge mit dem Wettbewerb am Markt zusammen, etwas, was im Endeffekt natürlich nur uns Kund*inn*en zu Gute kommt. In Wahrheit kriegen wir doch denselben Scheiß in unterschiedlichen Tüten serviert, damit wir uns besonders fühlen können. Toll gemacht, Marktwirtschaft.

Via flickr by Be-Younger.com

happy businessman_Be-YoungercomDer Enthusiasmus für dieses wunderbar funktionierende System reißt noch immer nicht ab! 

Bleibt noch immer die saubere Welt des Sports. Hier geht es noch mit ehrlichen Dingen zu: Kühne Frauen und Männer (und alles dazwischen) die sich im ehrlichen Wettkampf miteinander messen. Klar, hin und wieder werden einige Tunichtgute des Dopings überführt, aber das sind „bedauerliche Einzelfälle“, abgesehen von Radrennen á la Tour de France, die mittlerweile nur noch lächerlich sind. Ich frage mich, ob mensch bei Buchhaltern höhere Quoten für die Siege oder für die Dopingenthüllungen nach der Tour de France bekommt. Wie dem auch sei, „unsere“ Spitzensportler*innen sind nicht gedopt und bringen ehrliche Leistung. Bis zumindest im August 2013 eine Studie der Humboldt-Universität auf 800 Seiten belegt: In Westdeutschland wurde genauso schlimm gedopt wie „im Osten“. Nur, dass hierzulande dieselben Kader im Deutschen Sportbund (bzw. der Nachfolgeorganisation, dem Deutschen Olympischen Sportbund) sitzen, welche diese Politik seit den 1970ern mitverantwortet haben und welche nicht nach 1990 ihren Hut nehmen mussten. Die ganzen Erfolge der „deutschen Sportler*innen“ sind also genauso erschummelt wie die Leistungen aus „dem Osten“. Super, Leistungssport.

Und hier sind wir dann letztlich bei dem, was mich diesen Monat so richtig ankotzt. Es ist jene hochmütige Arroganz, gepaart mit an blanker Dummheit grenzender Naivität, mit welcher die westlichen Demokratien glauben, sie seien den anderen, das heißt „kommunistischen“ oder wahlweise „sozialistischen“ Systemen überlegen. Dabei beruht diese Überlegenheit angeblich auf unserem freien politischen System, in dem es um Wettbewerb, um tatsächliche Leistung geht, dass die oder der „Beste“ sich am Ende durchsetzen werde. Aber der Wettbewerb ist doch nur Fassade für die wenigen Oligopole, welche sich im letzten Jahrhundert gebildet haben. Das Beispiel der Lebensmittelindustrie zeigt doch, dass Wettbewerb gar nicht mehr gewollt ist, weil ein tatsächlicher Markt, „echter“ Wettbewerb viel zu riskant wäre. Und die sportlichen Leistungen sind auch null und nichtig durch das grassierende Doping in den Sportarten. Deutschland kann sich doch nicht mehr ernsthaft auf die Brust trommeln wegen seines tollen Medaillenspiegels. Und schließlich werden die ach-so-freien Bürgerinnen und Bürger der wahnsinnig-total-freien westlichen Demokratien genauso überwacht wie in den unheimlich-schrecklich tyrannischen Ostblockländern. In welchem Grad sich der BND, MI5/MI6, DCRI oder NSA (um nur einige zu nennen) jetzt noch von der Stasi oder dem KGB unterscheiden, diese Erläuterung bleiben die Regierungen uns Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Und an alle die jetzt schreien “Aber die Stasi hat Menschen umgebracht!”: Ja hat sie. Und genau deshalb sollten wir aufhören, Menschen mit Drohnen zu töten, Geheimgefängnisse zu halten und Waffen an autokratische Regime zu liefern, vielen Dank.

Via flickr by Steve Rhodes

NSA Spy_Steve RhodesAber ja, macht ihr mal völlig unauffällig weiter. 

Wir alle mussten in den letzten Jahren, aber vor allem in diesem Jahr, feststellen, dass unsere Demokratien Gefahr laufen, keinen Deut mehr besser  zu sein als die autokratischen Systeme, gegen welche sie noch vor dreißig Jahren agitiert haben. Was mich aber am größten schockiert ist das offensichtliche Desinteresse, mit dem die Menschen auf diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit reagieren. Kaum jemanden scheint es zu kümmern, dass wir alle flächendeckend abgehört werden. Niemand regt sich mehr über Doping auf. Alle zahlen unterschiedliche Preise für den gleichen Käse. An allen Ecken und Enden werden wir, denen mensch in der Schule beibringt, wir seien „mündige Bürgerinnen und Bürger“ und vernunftbegabte Wesen, behandelt als seien wir kleine Kinder, die nicht wissen, was sie tun und deshalb an die Hand genommen werden müssen. Das schlimme ist, dass es bei all dem wahrscheinlich kein übergeordnetes Ziel gibt, sondern wir alle Opfer einer sich selbst erhaltenden Dynamik geworden sind, von denen gerade diejenigen zu profitieren scheinen, welche das System ändern könnten. Schlusspunkt dieser Entwicklung kann doch nur eine völlig zynische – und damit menschenverachtende – Gesellschaft sein, in welcher niemand mehr an irgendetwas glaubt und jede*r nur noch sich selbst die oder der Nächste ist.

Ich will nicht in so einer Welt leben und ich hoffe Ihr auch nicht. Und deswegen schreibe ich den Aufreger, damit vielleicht ein Mensch versucht, etwas klarer zu sehen und die Hand abzuschütteln, die sie oder ihn in die gewünschte Richtung triebt. Aber alleine kann ich nur anschreiben gegen die virale Ignoranz und die wunderschön bemalten Scheuklappen. Deshalb meine Frage: Und was macht Ihr so, um euch nicht zur Konsummaschine degradieren zu lassen?