Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über die Ankündigung von Tropico 5 schreiben. Denn ich habe neulich den Vorgänger (wenig überraschend Tropico 4 betitelt) wieder einmal gespielt und dabei gedacht: „Nee, das Spiel ist eigentlich ziemlich rund, vielmehr können die Damen und Herren bei Haemimont Games da nicht mehr herausholen. Da müssten die schon arg das Spielprinzip ändern, so wie damals bei Tropico 2, als sie plötzlich auf einer Pirateninsel waren und Geld durch kapern und sowas verdient haben.“ Tja, und dann vermeldet Kalypso Media plötzlich das Erscheinen von Tropico 5. Die Säcke. Als Features sollen wir bald El Presidentes (oder La Presidentas) ganze Dynastie spielen können, „richtig“ Krieg führen und unsere eigene Insel entdecken, sowie über mehrere Technologiestufen (und historische Abschnitte) hinweg Präsident*in unserer eigenen Insel sein dürfen. Aber dann kamen mir die Neunziger dazwischen. modern house_bigcityal

By BigCityAl, via Flickr.com

Die 1990er Jahre, natürlich. Ich muss gestehen, dass diese Zeit in meinem eigenen Gedächtnis leider ein wenig verschwommen ist und erst gegen Ende des Jahrzehnts etwas klarer wird. Aber insgesamt schaue ich mit gemischten Gefühlen zurück auf die Neunziger. Zum einen, weil sie eine politisch fragwürdige Zeit waren, beginnend mit dem Ende der DDR und aufhörend mit dem zerplatzten Traum einer besseren Welt – spätestens im September 2001. Oder schon früher, angesichts der Völkermorde in Ruanda und auf dem Balkan. Nicht unbedingt unschuldig daran ist der Westen, der mit seinem unglaublichen Hang zur eigenen Nabelschau nach der Auflösung der Sowjetunion „Das Ende der Geschichte“ ausrief, da in Europa und den USA ja alles bestens stünde. Soviel also zur negativen Seite der Neunziger.

Tja, und zum anderen, zum Positiven, haben die Neunziger mit Techno und Rave, mit coolen Cartoons (Rockos Modernes Leben! Animaniacs! The Tick!) und tatsächlichem Witz im Fernsehen (RTL Samstag Nacht!), nicht zuletzt mit großartigen Videospielen (Chrono Trigger! Shining Force! Gunstar Heroes! Street Fighter II! Master of Orion II!) einen ziemlichen tiefen Eindruck in der Popkultur hinterlassen. Oh ja, natürlich dürfen wir auch den Grunge nicht vergessen, wahrscheinlich die einzige wirklich hörenswerte Musikrichtung der Neunziger (Pearl Jam!). Und schließlich haben die Neunziger, mittelbar, auch dieses Spiel hervorgebracht, dass ich gerne vorstellen und jede*r*m ans Herz legen möchte: Gone Home. coastalhouse_petercharbonnier

By Peter Charbonnier, via Flickr.com

Denn dieses Spiel ist angesiedelt im Juni 1995. Das findet ihr nicht selbst heraus, das wird euch zu Anbeginn gesagt. Euer Alter Ego, Kaitlin Greenbriar, kommt nach einem Jahr in Europa wieder zurück in die USA, zu ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester. In diesem Jahr ist Kaitlins Familie umgezogen und sowohl für euch als auch für Kaitlin gilt es nun, dieses neue, riesige Haus zu erforschen. Denn ihr kommt mitten in der Nacht an und niemand ist daheim. Was ist passiert? Wo sind eure Eltern? Wo ist eure Schwester? Warum haucht da ein Mädchen panisch den Namen eurer Schwester auf den Anrufbeantworter?

Ich will kein weiteres Wort über die weitere Handlung verlieren. Schließlich steht das Erforschen derselben im Mittelpunkt des Spiels. Ihr tappt durch die Wohnung und könnt die gewöhnlichsten Dinge, von Taschentuchboxen bis zu Klopapierrollen in die Hand nehmen, umdrehen und wieder an ihren Platz zurückstellen. Nebenbei taucht ihr auch zurück in die Neunziger: große Röhrenfernseher, lauter akribisch beschriftete Videokassetten (Akte X war wohl der Renner im Hause Greenbriar), im ganzen Haus kein Computer, dafür Schreibmaschinen, nadelgedruckte Papiere von der Arbeit eurer Eltern, handgeschriebene Briefe und jede Menge Stifte. Für Atmosphäre sorgen auch die Musikkassetten eurer Schwester, die im ganzen Haus verstreut liegen. Gone Home bietet in dieser Hinsicht einen harten Nostalgietrip.

appartementbahrain_dennissylvesterhurdBy DennisSylvesterHurd, via Flickr.com

Aber es geht nicht um Nostalgie. Es geht um Narration. Das Spiel erzählt vordergründig die Geschichte eurer Schwester Samantha, da sie die einzige Sprechrolle hat. Denn ihr bekommt nach bestimmten Aktionen die Briefe eurer Schwester vorgelesen, welche sie euch hinterlassen hat. So entwickelt ihr langsam eine Bindung zu ihr, was euch zusätzlich antreibt herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Aber nebenbei erfahrt ihr auch etwas über eure Eltern, die beide ihre eigenen Kreuze zu tragen haben, was aber nur angedeutet wird. Gerade diese Andeutungen, das Zusammenfügen der unterschiedlichen Puzzleteile dieser Geschichte, machen dieses Spiel einzigartig. Ich habe gemerkt, dass ich in den letzten Abschnitten nicht mehr zwischen den Spieler*inne*n und Kaitlin als eurem Alter Ego unterschieden habe. Denn irgendwann, wenn ihr eure Tür zumacht und euch Kopfhörer aufsetzt, wird dieses Haus euer Haus und die Geschichte eure Geschichte. In den letzten Minuten des Spiels dachte ich immer wieder „Oh bitte nicht, oh bitte nicht!“, da ich fürchtete, Samantha sei das Schlimmste zugestoßen. Ein in heutigen Videospielen wahrhaft seltener Moment der emotionalen Ergriffenheit, den ich da erfahren habe.

Vielleicht werfen die „spielerischen“ Elemente dieser interaktiven Narration einige von euch aus der Stimmung. So sind manche Türen abgesperrt und ihr müsst – natürlich – den Schlüssel besorgen. Oder es liegen mehr oder weniger intime Nachrichten ganz zuoberst in der Schublade. Mich haben diese Aspekte aber kaum gestört. Dann ist da auch der Preis: 18 € für knapp zweieinhalb bis drei Stunden Spielzeit ist ziemlich viel.

Aber mit welcher Sorgfalt die zwei Damen und zwei Herren von „The Fullbright Company“ hier ein Haus eingerichtet haben, wie sie es geschafft haben, nur durch Andeutungen vier (und, wenn mensch das Haus mitzählt, fünf) verschiedene Geschichten zu erzählen und wie beschränkt dabei doch das Setting ist, ist das wirklich großartig. Ich finde jede und jeder, der oder die sich für die narrativen und/oder künstlerischen Möglichkeiten des Mediums Videospiel interessiert, sollte Gone Home gespielt haben. Vielleicht nicht direkt jetzt, vielleicht später in einem Sale, vielleicht bei einer Freundin, vielleicht beim großen Bruder, aber die drei Stunden könnte man nicht besser verbringen.

PS.: Ach so, Tropico 5. Joah, klingt ganz interessant. Soll 2014 raus sein. Mal schauen.