Als die Menschen in Europa und den USA vermehrt begannen, mit der Eisenbahn zu reisen, kamen immer wieder Bedenken auf, dass diese Art der Fortbewegung schädlich sein könnte. „Zu schnell“ hieß es da von anerkannten Medizinern, Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, ‘delirium furiosum’ genannt, hervorzurufen“, befand 1835 das „Königlich Bayerischen Medizinalkollegium“ in einem Bericht, der ein erstes Beispiel für „Technology Assessment“ im 19. Jahrhundert darstellt. Gegenstand der Untersuchung waren die wahnwitzigen Geschwindigkeiten der Dampflok und ihre Auswirkungen auf den Menschen. Der Dampflok, wohlgemerkt, denn im Jahr 1835 gab es in Deutschland nur eine betriebsfähige Dampflok, den „Adler“, entworfen von Robert Stephenson, einem Pionier der Eisenbahnkonstruktion. Der „Adler“ (wie auch sonst sollte eine deutsche Dampflokomotive heißen?) unternahm im November 1835 erste Testfahrten und am 7. Dezember des Jahres war es dann soweit: Der „Adler“ rollte mit einer furiosen Geschwindigkeit von vielleicht 40 km/h (Höchstgeschwindigkeit waren entsetzliche 65 km/h, ungefähr) von Nürnberg nach Fürth. In 9 Minuten. Für eine Strecke von 6,05 Kilometern. Booyah!

Die Eisenbahn gilt für viele als der Moment, in dem die Industrialisierung volle Fahrt aufnahm. Das trifft vielleicht auf Kontinentaleuropa zu, Großbritannien war da wesentlich weiter. Schwamm drüber, was jedenfalls geschah, war, dass das Leben vieler Menschen, vor allem der abhängig Beschäftigten, sich radikal änderte. Nicht mehr die Sonne und der eigene Wille (oder der Wille des Lehnsherr/Gutsbesitzers…) bestimmte das Leben, sondern die Stechuhr. Man musste schuften, um sich was zu essen und ein Bett leisten zu können, nur um nach Hause zu kommen, zu schlafen, aufzustehen und wieder zu arbeiten. Und wer dessen überdrüssig war, der sah sich im ausgehenden 19. Jahrhundert Laterna MagicaVorführungen an, oder, ab 1895, besuchte diese seltsamen Gebäude, in denen Apparate lebende Bilder an die Wand warfen. Hinzu kamen öffentliche Transportmittel wie Pferdebusse, später Strassenbahnen und sogar Autos. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs kam vielen Menschen die Beschleunigung des Lebens in den Großstädten nicht mehr geheuer vor, man spekulierte über ein „nervöses Zeitalter“ und strich sich dabei viel und oft über den ausladenden Schnäuzer.

Bärte! Dieser Mann hieß übrigens Panajot Chitow. Via Wikimedia Commons

Unser Leben, heute, 177 Jahre nachdem der „Adler“ im Bahnhof landete, ist fraglos schnell und hektisch geworden. Besonders das Internet hat der Beschleunigung unseres Lebens nochmal einen kräftigen Schub gegeben, wahrscheinlich noch nie zuvor flossen die Informationen so schnell wie heute um die Welt und auch noch nie zuvor lief dieser Strom, nein, diese reißende Flut potentiell durch unsere Handflächen. Gerade deswegen ist es so interessant zu beobachten, wie wir Menschen auf diese Beschleunigung reagieren. Wir müssen lernen zu filtern, zu entscheiden, blitzschnell, was für uns wichtig ist, was nicht, was wir glauben können und was wir für unglaubwürdig halten. Wir müssen auch lernen, was wir erwarten können und was nur overflow an Informationen ist.

Und wir kacken übel ab.

Wir lassen uns von jedem Scheiß mitreißen, wir glauben den größten Blödsinn, wenn er uns nur richtig verkauft wird, nämlich als DAS NEUE DING! Der HYPE. Zwei aktuelle Beispiele:

Nummer eins: Am Mittwoch (4. Juli) verkündete das CERN, dass es bei Messungen Hinweise auf die Existenz eines theoretisch angenommenen Teilchens gefunden hat. Zufälligerweise, und glücklicherweise für die Damen und Herren am CERN, handelt es sich bei diesem Teilchen um eine recht zentrale Annahme im derzeit geltenden physikalischen Konsens den Aufbau unserer Welt (Universum eingeschlossen) betreffend. Da Physik manchmal etwas kompliziert ist (wegen der Quanten…) muss dieser Sachverhalt etwas vereinfacht werden, und, naja, weil es bei dem Teilchen um die vermutete Ursache von Masse und damit Gravitation geht, also etwas fundamental wichtiges in der Physik, könnte man das ganze mit einem leichten Augenzwinkern quasi „Gottesteilchen“ nennen. Leider ging das Augenzwinkern irgendwo zwischen der Pressemitteilung des CERN und der erstbesten Presseagentur verloren und wurde zu einem unangenehmen Starren. Noch nie hat die Physik solche eine Berichterstattung in den Mainstreammedien gefunden, und wahrscheinlich waren noch nie so viele Leute begeistert von etwas, von dem sie nichts verstanden haben. Das Ding heißt Higgs-Boson und die Leute vom CERN haben Hinweise auf seine Existenz ausgemacht. Niemand, NIEMAND (!) hat das Ding nachgewiesen, denn die Leute vom CERN sind alles WISSENSCHAFTLER, die WISSENSCHAFTLICH arbeiten; seltsame Leute also, die sich eher darüber freuen würden, könnten sie beweisen, dass etwas falsch ist. Das ist nämlich viel einfacher, als zu beweisen, dass etwas da ist. Aber das ist der Kackpresse natürlich egal, wenn sie einen großen Aufmacher mit dem „Gottesteilchen“ (wer hat das verbrochen, WER?) machen können. Während die theoretischen Manipulationsmöglichkeiten des Higgs-Bosons atemberaubend sind (HOVERBOARDS!), wissen wir einfach nicht mit Sicherheit ob das Teil tatsächlich existiert oder nicht. Das heißt, im kollektiven Bewußtsein unserer Welt existiert es, weil DIE MEDIEN ES GESAGT HABEN, und niemand sich die Zeit genommen hat, zu Fragen, ob das so stimmt, wie es da steht. Der Hype, die dumme Sau, hat uns erwischt und wir haben uns von ihm mal wieder kräftig die Poperze reinigen lassen.

via wvgirl1975 / flickr

Nummer Zwei: Zusammen mit Max (und Walde, wenn er Zeit hat) mach ich ja die Kolumne „Mehr Spieler“ über Videospiele. Somit darf ich jetzt behaupten, ich spiele Spiele und lese über Spiele und sehe mir Videos von Spielen an „aus beruflichem Interesse“. Das ist schon ziemlich cool. Weniger cool ist es, wenn man sich schon lange mit Videospielen auseinandersetzt und damit eine gewisse Distanz zu der ganzen Industrie gewinnt. Und damit auch langsam immer wieder vor Augen geführt bekommt, wie sich die Branche immer wieder selbst wiederkäut, nur um am Ende als brauner undefinierbarer Kackfladen in der Hand des/der erwartungsvollen Spieler*in zu landen. Warm, glitschig und stinkend. Praktisch die gesamte Industrie (ausser den Indiespielen, aber selbst die sind ein eigenes Thema) besteht nur noch aus dem gehype irgendwelcher Fortsetzungen. Gametrailers beispielsweise hat Assassin’s Creed III nicht nur zum Best Game of E3 gewählt, sondern auch zum Highlight auf jeder einzelnen Konsole (sogar auf der Wii U).

Und dann kam Watchdogs. Wow. Der feuchte Traum eines jeden Scriptkiddies und jedes von Machtfantasien heimgesuchten Pubertierenden (also aller Pubertierenden). Es hat alles: Schießereien, Live-Hacking, der Kampf gegen „das System“, Guerilla-Action, gute Grafik und fast jede*r Zuschauer*in musste nach dem Gameplaydemo die Unterhose wechseln. Ich bin auch sehr gespannt auf den Titel. Nur: das alles hab ich irgendwo schonmal gesehen. Irgendwie. Es ist so ein bisschen Assassin’s Creed, GTA, Deus Ex und Shadowrun (das Pen&Paper Rollenspiel, nicht der lausige XBOX-Shooter) zusammengemischt. Klar, man kann sich von schlechteren Spielen inspirieren lassen, aber mal ehrlich: so das allerneueste war das nicht. Es waren eben viele verschiedene Versatzstücke aus anderen Spielen, clever aneinandergetackert und gesprenkelt mit viel Coolnes-Glitzer-Sternchen. Sogar Ben „Yahtzee“ Croshaw reitet ein wenig auf der Hype-Welle mit und meint „if you’re getting pumped, get pumped for this“. Und dieser Mann ist nicht gerade bekannt für seine liebenswürdigen Formulierungen. Meine Güte, lechzen wir alle so sehr nach neuen Inhalten, neuen Spielzeugen für unser Lieblingshobby, dass wir uns fast blind auf jeden auf nur halbwegs innovativen Titel stürzen, den man uns vorwirft?

ABER ES SCHMECKT SO GUT! Via Stacina / Flickr

Der Hype, das alte Dreckschwein, hat unsere Gesellschaft wohl voll im Griff. Heutzutage geht es meist nur noch darum, der schnellste zu sein, vor allem in den Medien geht es darum, als erster DAS NEUE DING (!) zu haben. Da fällt Recherche, und somit Glaubwürdigkeit, schnell mal unter den Tisch. Aber das macht nichts, denn HEY DORT, DAS NEUE IPHONE! MIT SPRACHSTEUERUNG! Die übrigens nicht funktioniert, hab’s selbst getestet. Und weil mit der Schnelligkeit der Information auch unsere Aufmerksamkeitsspanne fällt, muss immer wieder etwas neues her. Und wenn’s mal nichts gibt, dann muss etwas so hochgejubelt werden, dass Zoos Stofftiere von Eisbären verkaufen können. Zum Beispiel. Der Hype ist mittlerweile so sehr in unser leben eingetreten ist, dass selbst Leute gehypt werden, die den Hype dooffinden und dieses Dooffinden deswegen selbst hypen.

Das schlimmste daran ist: Die Menschen wissen ganz genau, was sie tun. Der Hype-Zyklus ist ein anerkanntes Modell um neue Technologie zu lancieren und entsprechend vermarkten zu können. Wir spielen also ganz bewusst mit den Erwartungen und Enttäuschungen von Menschen. Denn nichts ist wohl schlimmer, als sich riesig auf etwas zu freuen, nur um dann enttäuscht zu werden. Die logische Konsequenz daraus wäre schrecklich: Man freut sich einfach auf nichts mehr, dann kann man auch nicht mehr enttäuscht werden. Aber dann kann man direkt schonmal seinen Grabstein beschriften lassen.

japanische Friedhöfe: erfüllen ihre Entspannungswünsche seit 1853! via Wikimedia Commons

 

Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass wir hin und wieder mal durchatmen und skeptisch sind. Zwar leiden wir nicht am „delirium furiosum“, aber auf jeden dahergelaufenen Hype-Zug aufzuspringen ist auch nicht gesund. Manchmal tut’s eine wahnsinnige Geschwindigkeit von 65 km/h auch, um uns an Ziel zu bringen.


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